Zwillingsarten

Entdeckungen können vielfältige Gefühle auslösen.

Leeres Konto: Frust.

Leiche im Keller: Schock.

Politischer Skandal (falls aufgedeckt): Gleichgültigkeit – weil nichts Neues.

Eine Zwillingsart: große Freude – wenigstens bei einem interessierten  Naturbeobachter.

 

Was ist bitte mit „Zwillingsart“ gemeint?

 

Es gibt bei Vögeln, Amphibien, Insekten usw. bestimmte Arten, die miteinander so eng verwandt sind, dass sie sich zum Verwechseln ähnlich sehen. Manchmal muss man schon sehr genau hinschauen, um sie auseinanderhalten zu können. Ein solches Zwillingspaar habe ich im letzten Beitrag vorgestellt: die Goldhähnchen.

Unsere Vogelwelt bietet eine ganze Reihe von Beispielen. Hier weitere, die in unserer Gegend vorkommen:

Grün- und Grauspecht:  Beide Arten sind größer als eine Amsel, in grünlichem Federkleid und suchen gerne auf offener Wiesenfläche nach Ameisen im Boden, auf die sie spezialisiert sind und die sie sich mit ihren langen Zungen aus dem Boden holen. Wie alle Spechte brüten sie in selbst gezimmerten Baumhöhlen.

Buntspecht und Blutspecht

Zilpzalp und Fitis: Das sind zwei unscheinbare grau-grün gefärbte Laubsängerarten, kleiner als eine Kohlmeise. Sie huschen ruhelos im Geäst von Sträuchern und Bäumen auf der Suche nach Insekten, die sie mit ihren kleinen, spitzen Schnäbeln absammeln. Der Gesang des Zilzalps ist jedem bekannt, selbst wenn er ihn nicht als solchen bezeichnen könnte.

Sumpf-und Weidenmeise: Auch diese beiden Arten sind kleiner als Kohlmeisen, mit grauem Anzug, schwarzer Kappe auf dem Kopf, weißlichen Gesichtern und einem schwarzen Bart. Sie suchen ebenso mit feinen Schnäbeln das Laubwerk, Äste und Sträucher nach tierischer Nahrung ab. Im Winter erscheinen sie gerne an einem Futterhäuschen, schnappen sich einen Sonnenblumenkern, fliegen mit ihm auf einen Ast und hacken ihn dort auf.

Weitere Beispiele bei uns wären: Garten- und  Waldbaumläufer. Will man allerdings die Zwillinge Nachtigall und Sprosser oder sowohl Raben- wie Nebelkrähe entdecken, muss man weiter nach Osten fahren. Ebenso für Bunt- und Blutspecht, die sich bis auf die schwarze Strichfärbung an der Halsseite und die Intensität der Rottönung am Unterbauch beim Blutspecht sehr gleichen.

links jeweils Raben- und rechts Nebelkrähe

Sie können Hybride bilden, diese sind aber nur beschränkt fortpflanzungsfähig.

Die Beobachtung eines „Zwillings“ weckt Neugierde. Vordergründig natürlich: Welcher der beiden ist da gerade zu sehen? Und bei einigem Nachdenken fragt man sich dann: Wieso gibt es überhaupt derart ähnliche Arten? Gibt es für ihre Entstehung eine logische und nachvollziehbare Hypothese? Tja, was ist denn überhaupt eine Art?

Meine bevorzugte Definition ist der sog. biologische Artbegriff: Eine Art liegt dann vor, wenn Männchen und Weibchen einer Gruppe von Tieren miteinander fruchtbare Nachkommen in die Welt setzen, die dann ihrerseits zum Fortbestand der Art in der nächsten Generation beitragen. Bekommen ein weibliches und ein männliches Tier zweier verschiedener, eng miteinander verwandter Arten Nachwuchs, ist dieser ihr „Hybrid“ in der Regel unfruchtbar. Das ist die Sperre, die eine Vermischung von Arten verhindert.

Wie kommt es aber nun zu Zwillingsarten? Haben sie sich etwa, wie der Name nahelegt, aus einer gemeinsamen „Mutterart“ entwickelt?

 

Dafür sprechen einige Indizien. Das wichtigste Argument liefert das Klima der Vergangenheit. Vor 500 Tausend Jahren war es in Mitteleuropa nämlich warm, die Lebensbedingungen für Flora und Fauna waren ausgezeichnet. Sommer- und Wintergoldhähnchen etwa gab es damals noch nicht, aber ihre gemeinsamen Vorfahren, die alle damals verfügbaren Gebiete besiedelten. Dann wurde es allmählich kälter, und vor 440 Tausend Jahren setzte eine lange Eiszeit ein: Über Skandinavien bildete sich ein drei km dicker Eispanzer, der bis in den Nordteil des heutigen Deutschland reichte, die Alpen im Süden waren vergletschert, und das zwischen den Eisbarrieren liegende Mitteleuropa hatte sich zu einer lebensfeindlichen Kältesteppe entwickelt. Dieser Prozess dauerte immerhin ein paar Jahrtausende.  Mobile Tiere verließen die Kältesteppe und wanderten entweder nach Südwesten in Richtung der Iberischen Halbinsel oder nach Südosten zum Schwarzen Meer hin ab. Die derart verteilten Vögel fanden dort in ihren neuen Lebensräumen unterschiedliche Lebensbedingen vor, auch der Zufall spielte eine Rolle, und so entstanden in den folgenden 400 Tausend Jahren diese relativ geringfügigen Unterschiede in Aussehen und Verhalten. Im südwestlichen Teil entwickelte sich so beispielsweise das Sommergoldhähnchen, im südöstlichen Bereich das Wintergoldhähnchen. Als dann die Eiszeit vor 10 000 Jahren wieder zu Ende ging und die Lebensverhältnisse in Mitteleuropa wieder attraktiv wurden, konnten  beide Gruppen erneut ihre ursprünglichen Lebensräume in Mitteleuropa besiedeln, trafen aufeinander, lebten gleichzeitig im selben Lebensraum, aber konnten sich nicht mehr verpaaren. Denn zwei neue Arten waren entstanden, sozusagen „Artenzwillinge“ oder, wie wir sie nennen, Zwillingsarten.

Ein weiteres Indiz, das diese Abwanderungs-Hypothese stützt, ist noch heute  Verbreitungskarten von Tierarten zu entnehmen. Hier sieht man deutlich, dass jeweils eine Art der Artenzwillinge hauptsächlich im Westen Europas, die andere schwerpunktmäßig im Osten vorkommt. Und bei uns – in der Mitte - leben eben beide.

 

Und DNA–Analysen könnten eines Tages weitere Indizien liefern.

Warum aber fand ein nachträgliches Wiederverschmelzen der neuen Arten bei ihrer Rückkehr nach Mitteleuropa nicht statt? Drücken wir es menschlich aus: Sie haben unterschiedliche „Sprachen“ entwickelt und können sich nun nicht mehr als potentielle Partner erkennen. Ihr Gesang, der zum Anlocken der Weibchen und zur Revierverteidigung gegenüber männlichen Artgenossen dient, hat sie voneinander „isoliert“ und tut es immer noch. Und die beiden verschiedenen Gesänge einer Zwillingsart können sehr unterschiedlich sein! Exakt das erlaubt dem Vogelkundler, sie treffsicher zu unterscheiden – oft bevor er sie so genau sehen kann, dass ihr Äußeres eine Identifizierung ermöglicht.

 

Werner Oertel