Starengeschichten oder: Es bleiben viele Fragen

Seit Mitte Juni ist unser Nistkasten leer, die zweite Brut ausgeflogen, ohne sich großartig zu verabschieden. Wo treiben sich die Stare jetzt umher? Kleine Trupps kann ich auf Äckern beobachten, einige fliegen bei den Pferden von Frau Weidemann, aber wo „unsere“ sind, wissen wir nicht.  Sie können sich schon zu einem größeren Trupp versammelt haben, gemeinsam über das Land ziehen, abends einen gemeinsamen Schlafplatz im Schilf aufsuchen oder schon auf dem Weg in ein Weinbaugebiet sein, wo sie auf gute Kost hoffen. Um so etwas herauszubekommen, müsste man sie besendern.  (Wird in letzter Zeit bei vielen Tierarten immer häufiger gemacht).

Seit 4 Jahren hängt unser Nistkasten im Garten. Aus weniger als 10 Meter Entfernung können wir vom Esstisch aus die Vögel beobachten. Der „Brutbeginn“ startet eigentlich schon ein Jahr zuvor im Herbst. Da stellen sich alle zukünftigen „Miet-Interessenten“ ein: Kohl- und Blaumeisen, die Spatzen, jedes Jahr ein Trauerschnäpper, der wohl am Durchzug unsere Tränke gefunden hat, und natürlich auch einige Stare. Alle besichtigen die zukünftige Wohnung, finden sie wahrscheinlich auch in Ordnung (billige Miete!!), aber wenn dann im nächsten Frühjahr die Stare da sind, haben die schwächeren Interessenten keine Chance mehr. Und normalerweise sind mehrere Stare da. Wir beobachten keinen Streit, keine Raufereien, die Einigung, wer die Wohnung bekommt, erfolgt allem Anschein in einer stareninternen Diskussion. Nur wie?

Dann beginnt das Mieter-Paar mit dem Ausräumen der alten Möbel, das Baumaterial für die Neuausstattung wird angeschleppt. Oft tragen sie die Materialien quer im Schnabel, und je nachdem, ob dürrer Zweig oder biegsamer Grashalm, gelingt der Eintrag mehr oder weniger gut. Manchmal kämpft ein Vogel  richtiggehend, bis er seinen Zweig hinein geschoben hat, meist lässt er ihn aber nach einigem Bemühen einfach fallen. (Einmal hatte ein Vogel selber Mühe in das Loch zu schlüpfen. Er war zu dick, blieb immer wieder stecken und strampelte dann mit seinen Beinen, bis er es schließlich doch schaffte). Mit Einbringen von Nistmaterial ist es aber noch lange nicht getan. Es muss schon auch das richtige sein. Das bedeutet,  der eine bringt, der andere wirft wieder heraus. Aber irgendwann scheint das Werk dann doch vollendet. Manche Männchen haben nun noch eine Angewohnheit, die mir gar nicht so gefällt: sie zupfen von allen Schneeglöckchen die Blüten ab und bringen sie ihrer Angebeteten. Um zu wissen, was mit ihnen im Nest geschieht, müsste ich noch eine Videokamera einbauen.

Einmal lagen nach erfolgreicher Wohnungseinrichtung Stareneier am Fuße des Baumes. Meine Interpretation: Sie war schon vorher schwanger und der jetzige „Vater“ wollte keine fremden Kinder. Oder einfacher: Das Männchen wollte auf das Balzverhalten und die Kopulation nicht verzichten. Auf jeden Fall konnte die Hochzeit jetzt in aller Form stattfinden und das Brutgeschäft beginnen.

Sie brütet und er ist mit Futtersuche, Weib und Gesang beschäftigt. Es sei nochmal erwähnt: Ziemlich sicher ist der Gesang weniger Ausdruck von Freude, sondern  dient zuerst der Verteidigung der Nisthöhle sowie dem Anlocken des Weibchens, und anschließend der Synchronisation der körperlichen Prozesse im Weibchen – der Stimulierung von Hormonen zur Begattungsbereitschaft, zur Entwicklung von Eiern, zum Nestbau. Die Eier im Nest scheinen wiederum Brutbereitschaft und anschließend den Fütterungstrieb für die Jungen auszulösen. Letzteres wird durch die aufgerissenen Rachen der Jungen, die im Schnabelgrund eine leuchtende, art-typische Farbe haben, verstärkt.

Interessanterweise ist es immer wieder vorgekommen, dass mindestens drei Alttiere die Jungen versorgt haben. Leider lassen sich die Individuen nicht unterscheiden und eventuelle Verwandtschaftsverhältnisse nachweisen. Und auch bei der Schnelligkeit, mit der die Fütterung erfolgt, kann man Männchen (bläuliche) und Weibchen (gelbliche Schnabelwurzel) nicht mehr unterscheiden. Da müssten die Vögel schon farb-beringt sein. In den ersten Tagen wird von den Altvögeln nach der Fütterung ein fest umhülltes Kotbällchen hinaus getragen. Später ist das dann nicht mehr zu beobachten. (Vermutlich sind für die Zweitbrut dann die entsprechenden Räumaktionen erforderlich…)

2 Bilder links: Männchen | Bild rechts: Weibchen 

Das Brüten dauert etwa 14 Tage, das Füttern ungefähr genauso lang. Wenn die Jungvögel eine bestimmte Größe erreicht haben, streckt einer von ihnen bei Annäherung eines Elternteils (rufen sie?) seinen Kopf aus dem Schlupfloch heraus. Bald tun sie das schon automatisch, wenn sie ein ankommendes Geräusch hören. Das kann dumm ausgehen. Statt des Altvogels kam einmal eine Elster, der hungrige Junge streckte den Kopf heraus, die Elster packte ihn beim Kragen, zog ihn heraus - und sein Hunger war wohl schnell vorbei. Für die anderen Jungen ist jetzt Lernen angesagt. Aus dem Loch schaut immer nur einer heraus, ganz selten einmal sind es zwei. Ich kann also nicht sagen, wird dann immer der Gleiche gefüttert oder wechseln sie sich in der Reihenfolge ab.

Fütterung: die Raupe bleibt im Schnabel

Das  Ende der Fütterungszeit konnten wir drei unterschiedliche Szenarien beobachten:

Fall 1: Wir waren 1 Stunde nicht anwesend, hinterher war von den Staren keine Spur mehr zu sehen.

Fall 2: Ein Jungvogel saß auf dem Dach, ein weiterer Insasse wurde noch gefüttert, dann waren sie nach kurzer Zeit auch verschwunden.

Fall 3: Ein Jungvogel wollte das Hotel Mama nicht verlassen. Die Eltern gaben sich alle Mühe, ihn aus

            dem Kasten zu locken. Sie hielten ihm das Futter vor den Schnabel, steckten es ihm in den

            Schnabel, aber zogen es gleich wieder heraus. Wir beobachteten dieses Spielchen lange. Schließlich setzten sie sich in die Äste.

            Und irgendwann flogen sie ab – auf Nimmerwiedersehen.

Herauslocken des Jungvogels: die Raupe wird aus dem Rachen des Jungen wieder herausgezogen 

Und es dauerte keine zwei Tage, da war das nächste Starenpaar zur weiteren Brut da. Waren es wieder die gleichen Eltern? Oder hatte man sich im Herbst oder vor der ersten Brut abgesprochen, wer als nächster einziehen darf? War das ursprüngliche Elternpaar mit ihren Jungen unterwegs, um ihnen weitere Überlebenstechniken beizubringen?

Im Laufe des Jahres schließen sich die Kleinverbände zu immer größer werdenden Schwärmen zusammen. Es ist ein unvergessliches Erlebnis zu beobachten, wenn Schwärme von zehn-, zwanzig- oder dreißigtausend Tieren ihren Schlafplatz in einer Schilfregion aufsuchen. Da ziehen kurz vor der Dämmerung kleinere Schwärme von mehreren hundert oder tausend Tieren aus allen Richtungen  heran, vereinigen sich über dem Schlafplatz zu einem immer größer werdenden Schwarm, ziehen wie in einer einstudierten Choreographie Kreise, Schleifen, wechseln die Höhe, verdichten sich, finden wieder zu größeren Abständen voneinander zurück und fallen schließlich in das Schilf ein. Es kommen aber immer noch weitere kleinere Trupps dazu und es scheint – wie ich es auch einmal in einer Kuhreiher-Kolonie beobachten konnte - Rangeleien um begehrte Sitzplätze zu geben. Dann fliegen wieder alle auf, das Schauspiel kann sich noch ein paarmal wiederholen, bis endlich jeder seinen Platz im Schilf gefunden hat. Dann ist es aber fast schon dunkel geworden.

Stare sammeln sich zu immer größer werdenden Trupps 

Choreographie am Schlafplatz

es dauert lange, bis jeder einen Platz im Schilf gefunden hat.

Die Bilder sind stark aufgehellt. 

So bleiben eine Menge unbeantworteter Fragen. Wo ist gerade der Vogel? was macht er da? was verleitet sie, sich in Schwärmen zusammen zu finden? wie wird die Flugbahn des Einzelvogels im Schwarm auf die anderen abgestimmt? Usw. Als Antwort für die letzte Frage gibt es ein Computer-Modell. Es besagt: Ein einzelner Vogel bestimme die Flugrichtung und alle anderen würden – auch über die Nachbarn abgestimmt – diesem folgen. Ob das so ist? Einmal habe ich beobachtet, wie eine Rohrweihe sich einem Schwarm genähert hat. Innerhalb kürzester Zeit hat sich der Schwarm verdichtet und die Rohrweihe in ihrer Mitte eingeschlossen. Dem Greifvogel blieb nichts anderes mehr übrig, als sich wie ein Stein fallen zu lassen. Für eine derart blitzschnelle Reaktion kann ich mir nicht vorstellen, dass die im Modell erarbeitete Kommunikation funktionieren kann.

 

Es bleiben sehr viele Fragen. Was wissen wir wirklich von anderen Lebewesen…?

 

Werner Oertel