Artenvielfalt und Biodiversität – Wozu eigentlich?

 

Die Begriffe „Artenvielfalt“ und „Biodiversität“ tauchen in vielen Diskussionen auf. Und sie sind es wert, einmal genauer betrachtet zu werden.

 

Unter Artenvielfalt versteht man die Summe aller Arten von Lebewesen, die in einem betrachteten Bereich vorkommen. In einem Maisacker beträgt die Pflanzenvielfalt im Idealfall ‚1‘, d.h. ausschließlich Mais;  in einer bunten Wiese dagegen können ohne weiteres gut 100 Pflanzenarten zu finden sein.

 

Diese Wiesen gibt es noch im Naturschutzgebiet an der Isar

 

Was bedeutet eine so hohe Artenzahl von Pflanzen für den Lebensraum ‚Wiese‘?

Kurz gesagt, ist sie die Lebensgrundlage für eine hohe Zahl von verschiedenen Insektenarten. Ich selbst habe beispielsweise am Klosterberg innerhalb von nur 4 Stunden 50 Insekten- und Spinnenarten fotografiert und noch viel mehr beobachtet.

 

·     Denn: viele Insekten sind Nahrungsspezialisten. Manche Wildbienen beispielsweise suchen Pollen nur auf bestimmten Blumen. Und da unterschiedliche Blumenarten ihre Blüten auch zu verschiedenen Zeiten im Jahr öffnen, benötigen sie eben eine Artenvielfalt an Blumen.

 

·     Für nichtspezialisierte Insekten bietet diese Wiese sowieso ein dauerhaftes  Angebot an Pollen und Nektar.

 

·     Und den Räubern unter den Insekten, den Insektenfressern, ist damit ebenfalls eine permanente Nahrungsquelle sicher.

 

·    Zudem entwickeln sich viele Insekten auf Pflanzen, und der Pflanzenwuchs sichert so ihre Nachkommenschaft. Die meisten Schmetterlingsarten sind allerdings „heikel“: Raupen vom Schwalbenschwanz fressen nur Dillgewächse, die mancher Bläulinge unterschiedliche Kleesorten oder die vom kleinen Heufalter ein Gras, den Schaf-Schwingel. Manchmal kann man das sogar beobachten, wenn einzelne Schmetterlinge von Pflanze zu Pflanze fliegen, mit den Füssen kurz auf ein Blatt tippen, und entweder weiter fliegen oder ihre Eier ablegen. Sie testen mit ihren Geschmacks-Sinnesorganen an den Füssen, ob die Pflanze für ihren Nachwuchs die richtige ist.

 

Aus all dem wird verständlich, dass eine Wiese mit vielen unterschiedlichen Pflanzen die Voraussetzung für eine Vielzahl von Insektenarten darstellt.

 

Beispiele von den Klosterbergwiesen

 

Der grüne ZIpfelfalter bevorzugt als Nahrungspflanze für seine Nachkommen das Sonnenröschen

 

die Brennessel dient mehreren Schmetterlingsarten als Futterpflanze

Bild 1: Raupen des Tagpfauenauges, Bild 2: das Tagpfauenauge, Bild 3: das Landkärtchen, Bild 4: der Distelfalter

 

Und was bedeutet eine hohe Artenzahl an Insekten für die Pflanzen?

Insekten bestäuben Pflanzen und sichern so die Nachkommenschaft der Pflanzen. Ihre Kotabscheidungen verbessern das Nährstoffangebot. Aber sogar Kahlfraß bedeutet die Chance und den Zwang zur Verjüngung der Art. Ohne Insekten hätten nur die Pflanzenarten eine Überlebenschance, die vom Wind bestäubt werden - das sind zum Beispiel Gräser. Für alle anderen sind Insekten lebensnotwendig.

 

Was passiert im Boden?

Bis jetzt haben wir die an der Oberfläche sichtbare Lebensgemeinschaft grob skizziert. Das Leben geht aber in der obersten Bodenschicht, dem Humus, und auch unter dieser Schicht weiter. Dort erfolgt die Zersetzung von Pflanzen- und Tierleichen und das übernimmt ein Heer von weiteren Insekten- und Spinnenarten, von Asseln und Millionen von Mikroorganismen wie Bakterien, Pilzen, Einzellern…. So bildet sich der Humus, der – wenn er nicht weggeschwemmt wird -  allmählich den fruchtbaren Boden aufbaut.

 

Weitere Unterstützung kommt „von unten“, wenn Regenwürmer Pflanzenrest in ihre Röhren ziehen und ihren Kot wieder als Häufchen an der Oberfläche ausscheiden. Denn auch unter der Oberfläche herrscht Leben. Würmer können wir sehen, nicht aber die millionenfach vertretenen Mikroorganismen, die den nach unten geratenen Humus weiter  als ihre Nahrung verarbeiten. Damit das ohne Fäulniserscheinen geschehen kann, muss Sauerstoff in den Boden gelangen…

 

Und jetzt kommen die Pflanzen wieder ins Spiel. Ihre Wurzeln durchziehen das Erdreich. Wachsen die sie „in die Dicke“, drücken sie mit ihren Quellkräften den Boden ein wenig auseinander und lockern ihn. Und wenn sie absterben, bleiben feine Kanäle, die wie Adern das Erdreich durchziehen und je nach Witterung Luft oder Wasser im Boden speichern. Deshalb ist auch in diesem Zusammenhang eine artenreiche Pflanzenwelt von großem Vorteil: sie bildet nämlich unterschiedliche Wurzeltypen aus. Kleearten können beispielsweise ihre Wurzeln bis in eine Tiefe von 2 Metern treiben.

 

Windströmungen und Kühleffekte

Aber nicht nur der Boden nimmt Wasser auf, auch die Pflanzen saugen wieder Wasser, verdunsten es und tragen so zu einem guten Mikroklima bei. Zum Vorteil  für die Stadt: Wenn im Sommer über dem Häusermeer bei großer Hitze ein aufsteigender Luftstrom entsteht, der aus der kühleren Umgebung von unten mit entsprechend kühlerer Luft wieder aufgefüllt wird, versorgt das die Stadt mit Frischluft. Ein klimatischer Wirkmechanismus, der auch für die Klosterberghänge hinsichtlich der Stadtau und der Innenstadt gilt.

 

Bleiben wir beim Stichwort Klosterberg, weil für ihn bekanntlich Bebauungspläne existieren. Bei Starkregen – wie wir ihn gerade in Westdeutschland erlebt haben - könnten dessen steile Hänge eine Gefährdung für die Unterlieger darstellen. ABER: Der Wassersachverständige Robert Friedrich hat entdeckt, dass nirgendwo an den Wiesenhängen rinnenartige Wasserabflüsse auffindbar sind! Fazit: die Hangböden sind offensichtlich fähig, erhebliche Niederschlagsmengen aufzunehmen. Die Ursache liegt in der Wasserspeicherfähigkeit des gut entwickelten, saugfähigen Boden. Bodenversiegelung und Bebauung könnten dagegen bei einer Wetterkatastrophe eine gefährliche Überflutung im Tal zur Folge haben, weil das Wasser nun abfließt und auf einen, ohnehin in ein enges Bett eingezwängten und in vielen Abschnitten verrohrten Aubach trifft, der dann ja seinerseits bereits (zu) viel Wasser führt. Man kann durchaus behaupten: Die Klosterbergwiesen tragen bislang zum Schutz der Stadtau vor Überschwemmungen bei.

 

an schlecht durchwurzelten Steilhängen kann das Wasser tiefe Eroisionsfurchen bilden

 

Seltene Arten

Unbedingt anzusprechen ist somit ein weiterer wichtiger Aspekt der Artenvielfalt, der bei Bauentscheidungen so gut wie nie eine Rolle spielt. Denn eine rechtlich anerkannte und somit wirksame Argumentation von Seiten des Naturschutzes muss sich auf seltene und offiziell ausgewählte Arten, die auf „Roten Listen“ stehen, beziehen. Nur sie können Baumaßnahmen behindern bis verhindern.  Das ist keine Erfindung der Naturschützer, es ist vielmehr die einzige gesetzliche Möglichkeit, Naturzerstörung zu aufzuhalten. Eine solchermaßen „wertvolle“, weil vom Aussterben bedrohte Fledermausart,  konnte z.B.  den Bau eines  Elbtunnels  verhindern. Würde man am Klosterberg Zauneidechsen nachweisen – es mag durchaus welche geben – wäre das ein rechtlicher Stolperstein für die Bauplanung. Aber eine vielfältige Lebensgemeinschaft mit nur ganz „gewöhnlichen“ Pflanzen und Tieren, die eine derart wichtige Umweltfunktion für das Stadtklima oder den Hochwasserschutz erfüllen, zählt bislang nichts. In Anbetracht der augenblicklichen Entwicklung – auch weltweit – wäre es sinnvoll, viel mehr Wert auf den Schutz noch intakter Lebensgemeinschaften zu legen und die Artenvielfalt in ihrer biologischen Gesamtheit für den Umweltschutz in den Fokus zu rücken.

 

Zauneidechsen können Bauausführungen be- oder sogar verhindern

 

Und Biodiversität?

Der Begriff ‚Biodiversität‘ beinhaltet Artenvielfalt, umfasst aber zusätzlich noch etwas sehr Wesentliches: nämlich die Variabilität innerhalb einer Art.  Ein Beispiel: Die Art ‚Mensch‘ weist nach Weltregion und klimatischen Verhältnissen unterschiedliche Hautfarben auf, zurückführbar auf unterschiedliche genetische Dispositionen – ein körperliches Merkmal. Oder: Menschen besitzen auch das Potential für die unterschiedlichsten Fähigkeiten, z.B. handwerkliche, künstlerische, sprachliche, sportliche Fähigkeiten, um nur ein paar zu nennen. So besitzt die Menschheit als Gesamtheit (die ganze ‚Art Mensch‘) ein deutlich höheres Potential als ein Einzelmensch. Darin liegt eine große Chance, wenn es gilt, besondere Herausforderungen oder plötzlich auftauchende Gefährdungen zu meistern. - Unsere Politiker setzen wohl deshalb auf den Erfindungsgeist, insbesondere den deutscher Ingenieure,  um mit den zukünftigen Umweltbedrohungen fertig zu werden. Hoffentlich haben sie Recht!

 

Überträgt man diese Gedanken auf die Pflanzenwelt, dann sind in der Gesamtheit einer Art auch wesentlich mehr Potentiale vorhanden als in einer Einzelpflanze. Das ist von entscheidender Bedeutung für eine sich ändernde Umwelt, wie wir das gerade in erheblichem Ausmaß erleben. Denn jetzt können die Individuen mit geeigneteren genetischen Anlagen sich besser einpassen und so im gleichen oder in einem ähnlichen Ökosystem weiter gedeihen, und so das (Über)Leben der Art fortsetzen und die Art erhalten. Aktuell sehen wir das gerade beim Waldsterben. Forstwissenschaftler suchen weltweit nach geeigneten Arten, die in den kommenden  Klimaverhältnissen den Lebensraum Wald sichern können. Der durch die Medien weitbekannte Förster Wohlleben spricht sich schlicht dafür aus, einfach abzuwarten, nichts zu tun, bis sich der Wald (der ja oft nur eine Fichtenplantage war/ist) selbst wieder regeneriert. Ein interessanter Gedanke, der auf Biodiversität beruht.

 

Sollte man dann seltene Arten vergessen? Nein, denn auch in ihnen können wertvolle Qualitäten stecken, die der Menschheit noch entscheidende Dienste leisten können. So soll z.B. vor kurzem eine Meeresalge entdeckt worden sein, die Öl produzieren kann. Derartige Beispiele existieren viele, aber sie auszuführen, würden den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen. Jedoch: Allen Vorteilen zum Trotz, die uns die Natur mit ihren Lebewesen noch bieten kann, sollten wir nicht vergessen, dass jedes Leben Respekt verdient!

 

Wie es scheint, helfen aber Ermahnungen nicht weiter. Erst muss ein Unglück passieren. Nicht umsonst haben die Niederländer das Vaterunser in einer Passage leicht verändert: „….unser tägliches Brot gib uns heute, und hin und wieder eine kleine Sintflut….“

 

Werner Oertel